In einem großen Bogen entsteht das Porträt einer ungarischen Familie. Zwischen 1977 und 1987 kommen sechs Kinder zur Welt, zwei Mädchen und vier Jungen. Die Szenen liegen zum Teil zeitlich weit auseinander und spielen an Festtagen oder wichtigen Familienereignissen. Csaba Mikó, einer der erfolgreichsten jungen Autoren Ungarns, wirft einen Blick auf seine eigene Generation, die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre und die gesellschaftlichen Probleme, die sich seit dem Systemwechsel in Ungarn ergeben haben. Es geht um Hoffnungen und Träume, die Veränderung von Lebensverhältnissen und Wertvorstellungen. Der Vater, der sich als LKW-Fahrer durchschlägt, gehört zu den Verlierern der neuen Zeit, er ist der dauernd Abwesende, der als Familienvorstand seine Autorität eingebüßt hat und für seine Kinder kein Vorbild mehr sein kann. Diese Familie steht für das ganze Land Ungarn, von dem der Philosoph und Schriftsteller Péter Esterházy sagt, dass es vaterlos im Sinne von orientierungslos sei.
Mit dieser Uraufführung schauen wir auf das Land, das 1989 zuerst die Grenzen nach Westen öffnete und so maßgeblich an der Wiedervereinigung Deutschlands beteiligt war und das jetzt innerhalb der europäischen Union einen politischen Kurs eingeschlagen hat, der in dramatischer Weise die Demokratie aushebelt.
Die Vaterlosen wurde sowohl von den Theaterkritikern als auch vom Verband der Dramaturgen zum besten Stück des Jahres 2013 in Ungarn gewählt.
Eingeladen zum Festival für zeitgenössische Dramatik Budapest 2014 (Kortárs Drámafesztivál)
Mutter: Franzisak Sörensen
Tomi, ältester Sohn *1977: Thomas Bimstiel
Doda, Tochter *1980: Pina Kühr
Laci, Sohn *1981: Felix Steinhardt
Fester, jüngere Tochter *1986: Johanna Wieking
Simon, jüngster Sohn *1987: Jacob Keller
Regie: Michael Lippold
Bühne und Kostüme: Anna Schurau
Video: Jan Bertisch
Sound: Levin Kärcher
Dramaturgie: Stephanie Junge
Licht: Wanja Ostrower
Theater Regensburg / Sarah Rubensdörffer
Mikós Stück ist so etwas wie die Theater gewordene Unterstützung der These des Schriftstellers Péter Esterházy zu dessen Heimat: Ungarn sei eine eben vaterlose Gesellschaft, der ein Bewusstsein für die eigene Vergangenheit fehle und die sich deshalb taumelnd und leicht verführbar in eine kaum selbstgestaltete Zukunft bewege. Dieses Taumeln malt Mikó kräftig und bunt aus. (...) Doch hätte der sehr aufmerksame Regisseur Michael Lippold hier nicht den grandiosen Jungdarsteller Jacob Keller zur Hand, man könnte in Mikós zwischen seifiger Oberfläche, monströser Behauptung und präziser Zustandsbeschreibung changierendem Stück am Ende auch die Errettung eines funktionsuntüchtigen Landes erkennen. Mit Kellers aasiger Wucht jedoch wird das Stück zum Fanal. Hier nordet Lippold Mikós auf seine Landsleute viel bösartiger wirkende Ambivalenz auf deutsche Wahrnehmungsmöglichkeiten ein. Und das ist gut. (Süddeutsche Zeitung)
Mikó lässt die Figuren nicht nur Dialoge sprechen, sondern auch laufend Auskünfte über ihre inneren Zustände geben und sie äußeres Geschehen aus einer Beobachterposition beschreiben. (...) Genau diese Idee dieser Statik nimmt nun in Regensburg Regisseur Michael Lippold auf. Wenn schon die Handlung zackig durch zwei Jahrzehnte schießt, so bleiben die Protagonisten doch immer gleich und unwandelbar. (...) Im Zentrum des Abends stehen die beiden Töchter, charismatisch aufgeladen in ihrem Scheitern von zwei wunderbaren Darstellerinnen: Johanna Wieking macht als Fester den Zwieklang deutlich zwischen einem zutiefst verunsicherten Mädchen und seinem hibbeligen Hang zur Weltrettung, Pina Kühr ist als Doda eine elegante Frau auf der Flucht in die Welt der Kunst und bruchlandet dann doch immer wieder nur als älteste Tochter mitten im Familiensumpf. Denn all diese ratlosen, rastlosen Menschen bewegen sich keineswegs auf sicherem Grund, sondern auf rutschigem Sand zwischen Unmengen von gefüllten Einweckgläsern, die das trauliche einstige Familienidyll nur noch in Form von Bohnen, Pfirsichhälften und Soleiern birgt. (...) Und wenn auch Videos kurze, melancholische Filmaufnahmen aus Ungarn zeigen, so geht es hier definitiv nicht um Realismus. – Lippold stellt ein ruckelndes Familienbild aus, wechselt stehende Bilder ab mit plötzlichen Handlungsanfällen, lässt dann wieder Texte vom Band laufen und die Spieler sich in Position stellen. So sieht man dem Zerbersten einer Familie in Zeitlupe zu, die leidet, weil sie ihren Kern, ihren Sinn und ihre Hoffnung verloren hat. (Nachtkritik.de)
Uraufführungsregisseur Michael Lippold versucht in Regensburg sein Möglichstes, diesen politischen Kontext von Mikós Stück sichtbar zu machen, etwa indem er Videobilder aus Ungarn auf die Bühnenrückwand projizieren oder in Klangcollagen einen recht eisigen „Wind of Change“ durchs Theater pusten lässt. (...) Dass man die Regensburger Aufführung (...) gerne sieht, liegt am überzeugenden Ensemble, das einen angenehm alltäglichen Ton trifft, und am Regisseur, der die Schauspieler rund um einen per Klappmechanismus veränderbaren Tisch, der mal Familientafel, mal Schweinetrog, mal Krankenbett oder Sarg sein kann, immer wieder zu einprägsamen Bildern gruppiert. Manchmal haben sie etwas von Familienfotos, Momentaufnahmen, manchmal auch etwas von einer Familienaufstellung. (Bayern 2 „kulturWelt“)
Wenn das gemeinsame Weihnachtsbaumschmücken zum schlichten Gläserstapeln wird, zum Stapeln der mit Lichterketten, Tannenzweigen und Süßkram gefüllten Behälter zu einer Pyramide, gerät die Familienzusammenkunft immer mehr zur Farce. Die ausgetragenen und nicht ausgetragenen Zwiste der unterschiedlichen Lebensentwürfe, Geldsorgen und Ideologien reißen neue Gräben zwischen den Kindern auf, schütten andere wieder zu.(...) Eine spannende Ensemblearbeit, bei der die Dialoge toll austariert ineinandergreifen. (Die Deutsche Bühne)
Als Chronik seiner Generation – über sieben Stationen geht die Zeitreise von den 1980er Jahren bis in die Gegenwart – hat Autor Csaba Mikó sein Stück aufgebaut. Und als moritatenhaften Bilderbogen bringt auch Regisseur Michael Lippold die Geschichte auf die Bühne. Er nutzt Elemente des kritischen Volkstheaters, bricht die realistische Erzählweise dabei immer wieder auf mit kommentierenden Reflexionsvorgängen. Dazu gehören Videoeinblendungen, Klangcollagen und Stimmen aus dem Off. Effekte des absurden Theaters schaffen eine zweite Ebene der Ironie. (Mittelbayerische Zeitung)
Mit Stimmen aus dem Off und Videoprojektionen schafft Regisseur Michael Lippold sowohl Momente zum Lachen, aber auch sofort wieder den erschreckenden Umschwung zur angespannten, bedrückenden, düsteren Realität. (Rundschau)
Nun ist Csaba Mikós Stück freilich mehr als ein Familiendrama. Sein Fokus auf inneren Monolog, auf teils fragmentarische Handlungsstränge und Gesprächsfetzen, die oft keines Subtextes bedürfen, um subtil zu sein, scheint Die Vaterlosen zwar völlig ungeeignet für eine große Metapher zu machen. Doch gerade in diesem Gegensatz zwischen persönlicher Auseinandersetzung („Warum ist die Familie wichtig? – Weil du nur auf sie zählen kannst!“) und dem nationalhistorischen Kontext, in der es sich bewegt, lässt Mikós Werk in den Händen von Regisseur Michael Lippold und seinem Team zur großen Parabel für die Entwicklung Ungarns insgesamt werden. (Regensburg digital)
Directed by Michael Lippold and performed by the Theater Regensburg, The Fatherless has a highly designed approach wherein visual constructions run counterpoint to dialogue. Bringing to mind the early works of Thomas Ostermeier, albeit scaled down to a small sized theatre, the directing purposefully works against the given space by exaggerating the plays highly symbolic motifs with larger-than-life epic moments. Juxtaposing grand architectural concepts with an intimate setting, Lippold ends up ‘distancing’ during the more realistic scenes while creating a sense of familiarity during overtly theatrical moments. (Resident Magazine New York)