URAUFFÜHRUNG

OH BOYOMA

Von Elia Rediger
Konzert Theater Bern / Studios Kabako
Premiere: 2. Juni 2017


Wir befinden uns in einer Quarantänestation, einige Kilometer entfernt von einer Stadt am Fluss Kongo, in die uns eine lang vergessene Sehnsucht treibt. Nach einer Zeit zerstörerischer Kriege ist dieser Ort wieder zu einem weißen Fleck geworden – Ströme, Seen und Namen auf der Landkarte sind verschwunden. Vergessen von der internationalen Gemeinschaft, global agierenden Unternehmen und Hilfsorganisationen, entwickelte sich die Stadt zu einem autarken Raum voll köstlicher Geheimnisse.

Schon oft wurde bei Menschen Fantasielosigkeit diagnostiziert, wenn es darum ging, ein positives Bild der Zukunft zu zeichnen. Heute liegt für viele näher, sich einen privaten Bunker für den Ernstfall zu bauen, als ein paar Habseligkeiten in den Koffer zu packen und sich auf ein Leben in fröhlicher Gemeinschaft unter der tropischen Sonne vorzubereiten. Oh Boyoma besingt indessen eine verheißungsvolle Stadt ohne Namen und versetzt die Zuschauer in die Lage, die Aussicht auf eine Welt jenseits der Kriege, Krisen und Katastrophen wiederzuentdecken.

Der Musiker und Autor Elia Rediger ist in Kinshasa geboren und arbeitet zurzeit an einem Zyklus von Zukunftsbildern. Als Frontmann der Basler Pop-Band The bianca Story war er in Bern u.a. in Peter Pan (Regie: Michael Lippold) auf der Bühne zu sehen. Als Berner Hausautor der Spielzeit 2015/2016 im Rahmen des Stück Labor Basel entwickelte er in Zusammenarbeit mit fünf Künstlern aus der Demokratischen Republik Kongo ein Stück über ihre Hoffnungen, das nun auf die Bühne der Heiteren Fahne in Wabern kommt.

Von und mit:
Dorine Mokha
Mariananda Schempp
Innocent Bolunda
Nico Delpy
Franck Moka
Elia Rediger

Mit Beiträgen von: Shoggy Angoy, Rosette Lemba


Regie: Michael Lippold
Bühne und Kostüme: Iris Kraft
Text: Elia Rediger
Musik: Elia Rediger, Franck Moka
Dramaturgie: Eva-Maria Bertschy
Video: Can Elbasi, Elia Rediger

Konzert Theater Bern / Annette Boutellier

PRESSE

Redigers neuste Zukunftsvision heisst Oh Boyoma und ist ein Musiktheater, das vor der Haustüre der Heiteren Fahne in Wabern beginnt und das Publikum mitnimmt in die nicht allzu ferne Zukunft des Jahres 2030. Sechs Personen in knallgelben Schutzanzügen dirigieren das Publikum mit Megafonen durch eine Schleuse, wo allen die Temperatur gemessen wird und ein Formular mit absonderlichen Fragen ausgefüllt werden muss. Wann man den Weltuntergang erwarte und ob man polyresistent sei, wird da etwa gefragt. Drinnen zieht sich ein überdimensionales Lüftungsrohr durch den Saal, die Fenster sind mit durchsichtigen Plastikfolien verschlossen, davor wuchert ein wilder Dschungel (Bühne: Iris Kraft). Nach und nach wird klar: Wir befinden uns in einer Quarantänestation irgendwo im Kongo; hier gilt es, 40 Tage auszuharren, bevor am Gemeinschaftsleben teilgenommen werden darf. Die Zuschauenden werden also ins theatrale Geschehen eingebaut und zu Schweizer Flüchtlingen, die in einer kleinen afrikanischen Stadt auf eine bessere Zukunft hoffen. (...) Erzählt und vor allem gesungen werden wundersame Geschichten von einer Stadt ohne Namen, die nach dem Kongo-Krieg vergessen gegangen ist und die sich in der Abwesenheit von internationalen Unternehmen und Hilfsorganisationen zu einem Ort entwickeln konnte, wo menschliche Werte wie Vernunft und Solidarität wieder hochgehalten werden. Bald mischen sich aber auch Misstöne und laute Gitarrenrückkopplungen in die mehrstimmigen harmonischen Gesänge (Musik: Elia Rediger, Franck Moka). Sie bröckelt, die heile Welt des utopischen Fluchtortes, und zwar arg. Oh Boyoma unter der Regie von Michael Lippold ist ein multimediales Musiktheater, das die Fragen aufgreift, wie wir Menschen uns Zukunftsbilder schaffen und auf welchen Hoffnungen und Ängsten diese basieren. Projektionen von Video- und Live-Kamera-Aufnahmen auf halb durchsichtige Leinwände – hinter denen zusätzlich gespielt wird – setzt diese Mehrschichtigkeit ästhetisch stimmig um. (Der Bund, Gisela Feuz)

In knallgelbe Schutzanzüge gehüllte Leute schicken das Publikum mit Megaphonen in Sicherheitsschleusen. Im Saal muss man die Personalien angeben, wird nach Gruppen (grün, gelb, blau ...) an Tische gesetzt. Serviert wird Suppe, Wein und Brot. Aus einer Toncollage von fiktiven Radiomeldungen dringen Worte wie „Unruhen“, „Krieg“, „Eiszeit in Europa“ ins Ohr. (...) In der Zukunftsstadt halten die Kriegsgreuel früherer Zeiten die Gedächtnisse besetzt. Dystopisch wird fabuliert: Die EU ist nach dem Brexit zusammengebrochen. Der Neoliberalismus hat die Menschen Europas so sehr versklavt, dass dem der Strom abgestellt wird, der die neuen AGB eines Handy-Anbieters nicht akzeptiert. Alles flieht nach Afrika. (...) Bei den Bühnenmitteln werden alle Register gezogen. Die Live-Kamera montiert Gesichter überlebensgross in Urwaldszenarios auf der Hauptbühne. Einer tanzt mitten im Publikum seine Wut aus zu Gitarren-Krachattacken. Das Publikum wird vom Band-Chor zum Mitsingen aufgefordert – etwa über die Schweizer Nationalspeise Raclette. In einem Rap werden so viele „Resistenzen“ der Neuankömmlinge aufgezählt, dass framing-Verdacht aufkommt: Casting-Shows, David Bowie, Vereinsamung, Fleisch, Depression, weinende Babies. Das als Nummern-Revue strukturierte Musiktheaterstück erinnert – zusammen mit dem Caché des großen Landgasthofsaales – an einen „bunten Abend“, mit Episoden, Anekdoten, Songs, Tanzeinlagen. Das ist der Witz des Unternehmens. Das als verschworene Gruppe auftretende Ensemble zeigt sich als eine heterogene Gemeinschaft, die den Katastrophen auf ihrer Fahrt ins Ungewisse mit ungebrochener Würde, Spielfreude und Selbstironie begegnet und auch das Belanglose feiert. Sie will uns als Animateure zur Utopie in der Dystopie quasi mitreißen. Besonders fällt dabei Rediger mit Gitarre oder am Klavier als theatralische Reinkarnation eines Paul McCartney auf, der Tänzer Dorine Mokha als narzisstischer Charmebolzen, Nico Delpy als gewitzter Intellektueller oder Innocent Bolunda als das emotionale Gedächtnis der neuen Bürger. (Nachtkritik.de, Claude Bühler)

Träume und utopische Entwürfe prägen dieses Stück, das sich einem dramatischen Gedicht annähert. Es verzichtet auf kohärente Inhalte und Dialoge mit Spannungspotenzial, verschmilzt dafür Wort, Bewegung, Musik (Elia Rediger) und Videoprojektionen miteinander. Witzige Momente blitzen auf (...). Düstere Sequenzen liefern dagegen die Erinnerungen der Kongolesen an ihre Geschichte, ihre Toten, ihre Stadt, „die vergessen werden wollte, / um sich von ihren Wunden erholen zu können“. Aber das Vergessen gelingt nicht, denn immer hören die Menschen ein Rauschen, das schon seit je da war: leise, aber mit einer radikalen Energie, steckt doch in allen „Unzähmbares, nicht zu Bändigendes“. Sichtbaren Ausdruck findet diese Elementarkraft im exzessiven Tanz Dorines, einer der stärksten Passagen. Laut und wild gebärdet sich diese Produktion unter der Regie von Michael Lippold, farbig mit etwas Folklorekitsch und kummervoll zugleich, von Leben strotzend und von Unheil kündend. Auf einen schlüssigen Nenner lässt sie sich nicht bringen (...), bleibt aber haften als Wurf eines jungen Wilden. (Neue Zürcher Zeitung, Beatrice Eichmann-Leutenegger)