So sieht Idylle aus. Ein feines College in einer gepflegten Kleinstadt irgendwo an der amerikanischen Ostküste. Und am Ende dieser heilen Welt tobt der Ehekrieg. Martha und George sind über die Jahre zu wahren Kriegsprofis geworden. Sie, die verwöhnte Tochter des Uni-Rektors, und er, der pessimistische Geschichtsdozent. Kinderlos, skrupellos. Zu ihren großen, nächtlichen, alkoholgetränkten Schlachten laden sie sich ein ganz besonderes Publikum: junge Paare, Amateure, Anfänger, als Zeugen und Blitzableiter. Sie manipulieren sie. Sie ziehen sie auf ihre Seite. Jedes Mittel ist ihnen recht. So wie bei Nick und seiner Frau Honey. Die beiden kommen auf einen Drink und werden bald in das perverse Spiel hineingezogen. Doch diese Nacht ist eine ganze besondere Nacht. In dieser Nacht haben Martha und George beschlossen, dass sie weiter gehen als bisher. In dieser Nacht soll sie stattfinden, die letzte große Schlacht. Der totale Krieg. Bis zum bitteren Ende, an dem es nur Verlierer und Tote geben kann. Oder doch so etwas wie Hoffnung auf einen neuen Morgen?
Edward Albee entlieh den Titel seines Stücks einem zufällig entdeckten Toilettengraffiti: „Who’s afraid of Virginia Woolf?“. Die Zeile spielt mit dem Namen eines berühmten Kinderlieds: „Who’s afraid of the big bad woolf?“ Wer fürchtet sich vor einem Leben ohne falsche Illusionen? Mit intellektuellem Wortwitz, ganz so, wie es seine beiden Protagonisten schätzen, betitelt Albee auch die drei Akte seines Stücks: „Spaß und Spiele“, „Walpurgisnacht“ und „Exorzismus“. Dahinter verbirgt sich nichts Geringeres als die Lust am Exzess, eine Nacht orgiastischer Liebe und Hexenbeschwörung – und die Austreibung der Dämonen, die die Seele beherrschen.
Martha: Karin Kettling
George: Andreas Bittl
Honey: Pina Kühr
Nick: Felix Lampert
Regie: Michael Lippold
Bühne: Anne Brüssel
Kostüme: Natalia Nordheimer
Musik: Gregor Schwellenbach
ROTTSTR 5 THEATER / Birgit hupfeld
Lippolds Inszenierung verlegt die Handlung in eine wüste, irreale Teppichlandschaft. Keiner der Beteiligten hat um 2 Uhr morgens, nach einer Party, noch festen Boden unter den Füßen. Einzig das meterlange Schnapsregal über den Köpfen der Beteiligten ist statisch. (...) Einem einfachen Realismus ist somit buchstäblich schon der Bühnenboden entzogen, in der Folge zelebriert Lippold jede Konversation als Kampf. Einzig die Kleidung funktioniert noch als Maskierung des Zivilisierten, Georges exaltiertes Bärtchen, der braune Anzug, die Kostümchen der Frauen. In Wort und Tat offenbart sich aber unmittelbar Monströses. Hier brilliert Andreas Bittl als Zeremonienmeister (...), der die seelischen Deformierungen in die unebene Manege zerrt. Dieses Dominanz entspricht dem Konzept des Regisseurs Lippold, der sich weniger für die psychologische Offenlegung der Ego-Geschichten interessiert als vielmehr für grundsätzliche, existenzielle Dimensionen. Die Inszenierung nimmt ergo den Begriff Exorzismus ganz ernst - und mit George als Exorzisten eine bildgewaltige „Teufelsaustreibung“ vor. Lippolds Inszenierung ist ein großer Wurf. (WAZ)
Und um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Es ist ihr grandios gelungen. Weil Regisseur Michael Lippolds Programmblatt-Worte keine leeren Absichtserklärungen geblieben sind: Das Quartett geht bis an die Grenzen, die eigenen und die des zum Greifen nahen Publikums. Physisch, psychisch – die Nerven liegen blank. Es beginnt ganz harmlos in Anne Brüssels samtig-hügeliger Vließ-Landschaft, die von Spiel zu Spiel freigelegt wird analog zu den Häutungen der vier Protagonisten. (...) Im Finale, dem mit entsprechend gewaltiger Musik unterlegten Requiem „Wie sag ich's meinem Kinde“, bleibt Martha förmlich die Spucke weg – und dem Premierenpublikum Mitte März 2012 gleich mit. Die ungeheure Spannung in diesem naturgemäß bis auf den letzten Platz gefüllten Raum entlädt sich in Ovationsstärke unter ausdrücklichem Einschluss des Leitungsteams. Dabei hat Michael Lippold zunächst alles getan, um seiner gut zweistündigen Inszenierung den tradierten Albee-Realismus auszutreiben. Mit direktem, körperbetontem und besonders bei Andreas Bittl auch manieristischem Spiel sowie sprachlicher Pointierung der Übersetzung von Martin und Alissa Walser, die rasch die Fronten klärt und zunächst boulevardesk anmutet. Doch Lippold bleibt, anders als Jürgen Kruse in seiner einmal mehr ausufernden, allzu platten Bebilderung Ende Januar 1999 in den Kammerspielen an der „Kö“, hart am Text, kehrt von hier modernistisch erscheinenden Begriffen wie „Phrasenmäher“ zu Albee zurück und belegt eindrucksvoll dessen zeitlose Sprachkraft. (Herner Sonntagsnachrichten)
Michael Lippold gibt auch durch das Tempo der Sprechakte diesem Stück einen neuen Schliff. Er schafft es, dass nicht nur Marthas und Georges Beziehung als die absurde gezeigt wird, auch Nicks und Honeys zunächst „gewöhnlich“ anmutende Ehe entpuppt sich als grausam. Auch sie haben sich bereits eine Scheinwelt aufgebaut, die an diesem Abend zerbricht. Die Inszenierung lässt so beide Formen des Zusammenlebens scheitern, denn letztlich weiß keiner mehr, welche Existenz auf den größeren Lügen und Grausamkeiten beruht. (Trailer)