URAUFFÜHRUNG

SÉANCE DE TRAVAIL

Von Trajal Harrell
Choreografie, Regie, musikalisches Konzept: Trajal Harrell
Schauspielhaus Bochum
Premiere: 3. April 2019

Der US-amerikanische Choreograf und Tänzer Trajal Harrell kombiniert Tanzstile aus unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen Kulturen zu einer einzigartigen Bewegungssprache voller Referenzen und Humor. Es vereinen sich Elemente von Pop, Fashionshows, theatralische Posen und skulpturale Momente zu hintergründigen Reflexionen über Körper, Kultur und Sexualität. Für Bochum entwickelt Harrell eine neue Arbeit speziell für das legendäre Foyer des Schauspielhauses: eine Séance de travail.


Joseph kadow

PRESSE

Ein Foyer wird zum Laufsteg: Im Bochumer Schauspielhaus entfremdet die Performance Séance de Travail das Foyer von seinem eigentlichen Zweck. Ein langer Laufsteg, bestehend aus mehreren Podesten zieht sich durch den eigentlichen Raum des Wartens. Statt auf die Vorstellung zu warten, verbringen hier die Zuschauer als Beobachter einen extravaganten Abend. Der Tänzer und Choreograf Trajal Harrell vermischt alles in seiner Performance. Für seine Kombinationen verschiedener Tanzrichtungen und -stile ist er schon länger bekannt. In Bochum setzt er ihm die Krone des Abstrakten auf.

Was in dieser Performance fehlt, ist eine narrative Struktur. Die Rahmenhandlung einer Modenschau zerfällt bereits nach dem ersten Auftritt der vierzehn Tänzer und Schauspieler des Bochumer Ensembles. Wir sehen keine Modenschau oder ein Tanzstück, sondern ein Kunstwerk bestehend aus mehreren Tableaus. Diese treffen sich, ergänzen sich und formieren sich um. Die einzelnen Performerinnen bilden sich zu verschiedenen Paarkonstellationen oder kleinen Gruppen, um sich im nächsten Moment wieder zu trennen. Sie sind theatralische Posen, Skulpturen, Augenblicke. Dazwischen ordnet sich der Tanz ein. Auch nicht klar definierbar – mal Voguing, dann wieder Butoh und manchmal einfach nur Bewegung. Jedoch nie verunsichert, immer zielgerichtet, immer energisch. Der japanische Butoh-Tanz ist die wichtigste Chiffre des Abends: Die Toten tanzen durch die Körper der Lebenden. Er wird als „Tanz der Revolte“ bezeichnet und beinhaltet skurrile Bewegungen, die inspiriert von Kranken, Behinderten und Schwachen sind. Verzerrte Gesichtszüge, kuriose Verrenkungen und das Leidende prägen diese Momente in Séance de Travail. Die Darsteller setzen im übertragenden Sinne Masken auf. Entweder blicken sie ins Nichts, dann wieder anzüglich auf die Zuschauer, im nächsten Moment weinend, im anderen verzerrt, dann wieder übertreiben glücklich. Am Ende weinen alle.

Die Kostüme sind inspiriert von verschiedenen kulturellen Modestilen aus unterschiedlichen Jahrzehnten, viel Haute Couture, wahre Kunstwerke und im nächsten Moment wieder normale Sportkleidung. Für diese Meisterwerke gebührt Stephen Galloway, der für die Kostüme zuständig ist, großen Respekt. Am Höhepunkt des Abends wartet er mit einem Spiel mit Verschleierung auf und variiert mit dem Verborgenen. Kleidungsstücke werden umfunktioniert und zu Niqab, Abaya oder Hijab. Teilweise zeigen sie, was sich unter diesen Schleiern verbergen oder sie werden in ihrer Funktion verfremdet. Wie ergänzt und verändert sich das Oberflächliche mit dem Verborgenen?

Auch wenn es ungewöhnliche Kreuzungen sind, so harmoniert doch alles, weil gerade nicht versucht wird, dass alles zusammenpassen muss. Zum Beispiel nimmt die Musik eine eigene Position ein und unterstützt das Geschehen selten. Am Anfang tragen die Performer sportliche Kleidung, bewegen sich wie auf einer Modenschau, verweilen in Posen. Unterlegt von Trommeln, Geräuschen, die wie quietschende Schuhe klingen und Klatschen. Zunächst wird dieser Sound wiederholt. Als sich die Kostüme verändern und extravaganter werden, wechselt der Sound nicht sofort. Danach taucht er wieder auf, manchmal einfach unter eine andere Melodie runtergelegt.

In diesem kurzweiligen, aber intensiven Abend werden wir entführt in eine Welt der Diversität – in allen Bereichen. Mode, Kunst, Kultur – wer kann das noch alles genau unterscheiden? Alles verschmilzt. Es schwingt immer eine Ironie mit. Zu übertrieben die Gestiken, die Kostüme, die Bewegung. In zwei Einkerbungen auf dem Laufsteg befinden sich Geldscheine. Eine stetige Erinnerung an den Materialismus und Kapitalismus, den wir uns zum Vergnügen anschauen. (Maike Grabow, Die Deutsche Bühne)

Im oberen Foyer des Schauspielhauses Bochum haben der Choreograph Trajal Harrell und Bühnenbildner Stephen Kiss einen raumgreifenden Laufsteg aufgebaut. Er ist mit einem Kirschenmuster beklebt und in der Mitte sind kleine Wasserbecken eingelassen, in denen Dollarnoten schwimmen. Wie alle Arbeiten von Harrell speist sich auch Séance de Travail aus dem Kosmos der Mode. Die gut halbstündige Performance ist der Form nach ein klassisches Defilee.

In der ersten Viertelstunde schnarrt ein schleppender Industrial-Beat aus den Lautsprechern, gelegentlich legt sich eine orientalisch anmutende Gesangslinie darüber. William Bartley Cooper, Jia-Yu Corti, Dominik Dos-Reis, Rob Fordeyn, Ann Göbel, Hanna Hilsdorf, Max Krause, Michael Lippold, Perle Palombe, Owen Ridley-DeMonick, Vánia Doutel Vaz, Ondrej Vidlar und Lukas von der Lühe schreiten über den Catwalk, Pose, halten, ab. Verwirrend nur, dass sie alle Kleidung tragen, als wäre dies nur eine Probe: T-Shirts, Jogginghosen, Sneaker (Kostüme: Stephen Galloway). Mit jedem neuen Walk mischen sich kleine Irritationen dazu. Hüftschwünge werden exaltierter, Männer kopieren weiblich anmutende Posen, dort trägt einer plötzlich einen Ohrring, einen Halsschmuck oder Gürtel mit Fransen aus Perlen, der eine Blick ins Publikum ist vielleicht etwas zu fixierend, jemand hat Cowboystiefel an.

Dann wird der Industrial-Beat unterbrochen von einer cheesy Synthie-Pop-Nummer. Die Musik beginnt hin und her zu springen als wäre der DJ betrunken, irgendwann gibt's kurz auch Philip Glass, dann Blues. Auf dem Laufsteg wird es immer bunter. Der halbe Kostümfundus scheint vorgeführt zu werden, manches sieht aus, als wären es nur ein paar umgebundene Stoffreste aus der Schneiderei, viel Paillette ist dabei, nackte Haut, ein BH kann auch zum Gürtel werden. Schrill und trashig ist das auf den ersten Blick, als würden Kinder mit dem Inhalt des mütterlichen Kleiderschrankes Modenschau spielen.

Tatsächlich setzt hier Harrell Zeichen, die mit den Erwartungen und Vorstellungen der Zuschauer spielen. Könnte dieser Paillettenstoff eine Burka sein, irgendwie orientalisch mutet da ein geknotetes Tuch an, ein Schmuck ist vielleicht indisch oder doch eher afrikanisch? Die Geschlechtergrenzen sind mittlerweile sowieso vollständig aufgelöst. Doch Harrell dreht die Schraube noch einmal weiter und lässt seine Models nun mit schrecklich verzerrten Gesichtern und krampfenden Bewegungen paradieren. Was nach abschreckender Freak-Show aussieht, eigentlich vom Butoh inspiriert ist, kippt immer wieder zurück, in das, was von einer Moden-Show erwartet werden könnte. Zwischen der kunstvollen Verunstaltung der Bewegung und der eingeübten Pose für die Fotografen am Laufsteg ist nur eine hauchdünne Linie.

So schlicht die Struktur der Performance ist, so spielerisch die Kostüme zusammen gewürfelt sind, so hart das alles immer wieder an der Grenze zwischen Camp und Trash entlang schlittert – Trajal Harrell weiß genau, was er tut und wie er beim Zuschauer erreicht, was er will. Das Publikum ist das einer Modenschau genauso wie das einer Performance, die nur vordergründig aussieht wie eine Modenschau. Beide Sphären gehen nahtlos ineinander über, nicht zuletzt, weil auch die Mode immer wieder für sich in Anspruch nimmt, Kunst zu sein. In diese verschwimmende Kontexte setzt Harrell weitere Zeichen der Verunsicherung, zu denen der Zuschauer eine Haltung finden muss. Jede Suche nach ethnischen Zuweisungen in den Kostümen, jede Frage, ob eine Pose nun eher männlich oder weiblich ist, jede Befragung der Körper nach Schönheit, Erotik oder Hässlichkeit verweist nur zurück auf die Erwartungshaltung der Schauenden. „Séance de Travail“ ist ganz unschuldig. Trajal Harrell schreibt nichts in die vorbei laufenden Körper. Wir, die Zuschauer, sind es, die diese Körper mit Vorstellungen und Erwartungen bedrängen und befrachten, die ständig Kategorien und Zuschreibungen suchen. Harrell lässt in dieser halbstündigen „Arbeitssitzung“ ganz elegant spielerisch all diese Kategorien zerbröseln, bis der Blick nicht mehr nach Geschlechtern und Ethnien, nach Rollenbildern und ästhetischen Urteilen sucht – und „schöne Füße“ ganz sicher nicht mehr das Maß sind. (Honke Rambow, kultur.west)

Harrells „Arbeitssitzung“, so die deutsche Übersetzung, hat’s in sich. Es ist eher eine Fashion-Show als eine Tanz- oder Theateraufführung. Das Foyer wird von starken Scheinwerfern ausgeleuchtet, ein großer, gezackter Laufsteg ist aufgestellt, darin eingelassen Bassins, in denen Geldscheine treiben. Die Akteure, Schauspieler des Bochumer Ensembles, Gäste sowie der Regisseur und Tänzer selbst, beleben für gut 30 Minuten diesen Catwalk, der zum Podium der Eitelkeiten, der Lust, der Würde und der Verzweiflung wird.

Vorgeführt wird zweierlei: die Bewegungsvielfalt des menschlichen Körpers und die Auswüchse des Fashion-Geschäfts. Indes, es ist schließlich eine Theateraufführung, ist nichts davon „wirklich“. Vielmehr verfremdet Trajal Harrell aus Prêt-à-porter-Modeschauen sattsam bekannte Posen, Haltungen, Gesichtsausdrücke und Frisuren seiner „Models“ zu Einzel- oder Figurengruppen von beinahe gespenstischem Charakter. Es entspinnt sich ein Spiel der Verstellung zwischen tränenden Augen und Grinse-Grimassen; Anklänge an orientalische und fernöstliche Tanzstile sind auszumachen. Alles ist in fließender Bewegung und man sieht diesem Treiben gebannt zu; mangelnde Reizausschöpfung kann man dem Choreographen keinesfalls vorwerfen (man denke auch an den enervierenden Soundtrack).

Die von den Schauspieler-Models vorgeführten Klamotten akzentuieren das noch. Die schrillen Outfits changieren zwischen Haute Couture und Karneval in Rio, Orient-Exotik trifft auf Fantasy-Fummel. Alltagskleidung und Glitzerzeugs werden ebenso aufgeboten wie Cowboy-Boots und Stiletto Heels.

Was das alles zu „bedeuten“ hat, ist eine müßige Frage. Die Bedeutung der Aufführung liegt in der Assoziation, die jeder Zuschauer für sich selbst mitbringt. Den einen wird diese „Arbeitssitzung“ an Karl Lagerfeld und Claudia Schiffer erinnern, dem anderen wie ein Abstecher in eine Schwulen-Bar vorkommen. Und doch wird eines im Verlauf der kurzen 30-Minuten-Vorstellung deutlich: So richtig glücklich machen die coolen und lasziven Posen, die offenherzigen Trikots und kurzen Röckchen und das offensive Herzeigen ihrer Körper die Akteure wohl nicht.

Vielmehr ist die bunt und betörend wirkende Aufführung von einer dünnen, feinen Linie aus Melancholie durchzogen. Immer wieder werden Blicke zu Leerstellen, Gruppenszenen zu Folien der Einsamkeit. Letztlich wirkt „Séance de travail“ wie ein schwüles, farbenprächtiges Zimmer, durch das unablässig ein leichter, fröstelnde Windzug geht. Anfangs bemerkt man ihn gar nicht, aber am Ende bläst er einem die Seele aus dem Leib. (Jürgen Boebers-Süßmann, WAZ)